01.08.2016

Assistenzsysteme – Rundum sicher?

Sie sehen die Gefahr kommen, blinken, piepen, rütteln um Aufmerksamkeit, lenken wie von Geisterhand, bremsen auf den Punkt und können sogar im Dunkeln sehen – Fahrassistenten machen das Fahren sicherer, aber auch nicht ungefährlich.

So viel ist sicher: Das Auto der Zukunft fährt autonom. Viele namhafte Hersteller wie Mercedes, Audi, BMW oder Volvo, aber auch neue Wettbewerber wie Tesla und der Internetriese Google arbeiten mit Hochdruck an selbst fahrenden Autos. Dass diese das zurzeit noch nicht wirklich können, zeigte vor kurzem auf tragische Weise der tödliche Crash in den USA mit einem autonom fahrenden Tesla Model S, dessen sogenannter "Autopilot" den Wagen geradewegs in einen kreuzenden Lkw-Auflieger steuerte.


Doch die Entwicklung schreitet voran. Laut einer Umfrage des Deutschen Verkehrssicherheitsrates (DVR) sind inzwischen ein Viertel aller Neuwagen mit einem oder mehreren dieser elektronischen Helferchen ausgerüstet. Selbst Kleinwagen wie der Škoda Fabia sind jetzt mit einem automatischen Abstandshalter und einer Rückfahrkamera zu haben.


Die zurzeit fortschrittlichsten Serienfahrzeuge auf dem Markt (auch Teslas Modelle) sind bei der Automatisierung des Fahrens erst auf der zweiten von fünf Stufen angekommen. (s. Abb. Seite 17) Denn wie der Name schon sagt, die Systeme assistieren. Die Verantwortung liegt immer noch in den Händen des Fahrers. Und die sollten deshalb auch immer am Lenkrad bleiben – und nicht am Smartphone. Das Beispiel Tesla zeigt auch: Die Assistenten können eine trügerische Sicherheit vortäuschen.


Es stellt sich die Frage: Welche Systeme gibt es, welche sind sinnvoll, welche überflüssig? Grundsätzlich gilt: Alles, was das Fahren sicherer macht, ist willkommen. Und der elektronische Beifahrer kennt keine Müdigkeit, keine Selbstüberschätzung, keine Risikofreude. Aber auch Assistenten, die dem Fahrkomfort dienen, können helfen, Stress und Hektik im unübersichtlichen Verkehrsgewusel zu reduzieren. Wir haben die aktuell gängigen Systeme zusammengefasst, sagen, wie sie funktionieren und was sie in der Praxis taugen.

Abstandsregel-Tempomat

 

Theorie: Das Herzstück des teilautonomen Fahrens. Das System hält mittels Radar, Laser und/oder Stereokamera hinter der Frontscheibe auf Höhe des Innenspiegels variabel einstellbaren Abstand zum Vorausfahrenden, verzögert, bremst und beschleunigt dabei selbsttätig.

Praxis: Funktioniert perfekt nur in Verbindung mit einem Automatikgetriebe. Je nach System und Marke bremst es bei höherem Tempo oft erst sehr spät, umgekehrt ist die anschließende Beschleunigung zu zögerlich. Auch sind die Sicherheitsabstände für deutsche Autobahnlücken meist zu groß, bei Kolonnenfahrt wird man regelmäßig nach hinten durchgereicht. Da ist ein konzentrierter Verstand besser. Bei Starkregen oder Schnee schalten manche Systeme einfach ab. Bei trockenem Wetter, auf langen Etappen und leeren Autobahnen wird das Abstandsradar aber als sehr entlastend empfunden.

Stau-Assistent

 

Theorie: Eine zusätzliche Funk-tion des Abstands-Tempomats folgt im Stop&Go den Spuren und vorausfahrenden Fahrzeugen, korrigiert automatisch per Lenk- und Bremseingriff Kurs, Abstand und Tempo.

Praxis: Funktioniert prima, sehr komfortabel im täglich nervenden Berufs- und Kolonnen-Verkehr, auch in Autobahn-Staus eine hilfreiche Entlastung.

Spurverlassenswarner/ Spurhalteassistent

 

Theorie: Hier erfassen Kameras die Fahrbahnlinien und warnen beim Überfahren akustisch, durch aufgeregtes Blinken in Frontscheibe oder Kombiinstrument oder Vibrationen in Lenkrad oder Sitzfläche. Fortgeschrittene Systeme halten den Kurs durch leichtes (VW) bis starkes (Mercedes) Gegenlenken samt aktivem Bremseingriff.

Praxis: Funktioniert nicht immer zuverlässig, sind Fahrbahnmarkierungen unvollständig oder in Baustellenbereichen nicht ein-deutig, kommt es zu irritierenden Warnungen.

Totwinkelwarner/Spurwechselassistent

 

Theorie: Sensoren in Heckstoßfänger und Außenspiegelgehäuse erkennen Fahrzeuge im toten Winkel und warnen mit leuchtend blinkenden Symbolen im Außenspiegel oder durch akustischen Warnton.

Praxis: Als unterstützende Hilfe sinnvoll, wenn man nicht beständig die Außenspiegel im Blick hat. Den klassischen Schul-terblick kann und sollte es aber nicht ersetzen.

Bremsassistenten

 

Theorie: Gibt es in mehreren Abstufungen. Seit 2011 in jedem Neuwagen vorgeschrieben ist der einfache Bremsassistent. Er erkennt an der Reaktionszeit des Fahrers, ob es sich um eine Notbremsung handelt, und bremst, egal wie stark der Fahrer aufs Pedal tritt, mit maximalem Druck. Sehr viel autonomer und mit aufwendiger Elektronik funktionieren die City-Stop-Systeme, die mit Kameras und Sensoren im städtischen Geschwindigkeitsbereich (bis 80 km/h) Autos, Radfahrer und Fußgänger detektieren, verzögern und im Notfall rechtzeitig den Anker werfen. Der Notbremsassistent wiederum kann das alles mittels Laser und/oder Stereokamera auch bei höherem Tempo bis 200 km/h. Und noch eine Brems-funktion schafft inzwischen, zumindest in der automobilen Oberklasse, zusätzliche Sicherheit. Der Kreuzungsassistent erkennt Gefahren durch annähernde Fahrzeuge von links oder rechts und fordert bei Bedarf optisch und akustisch zur Notbremsung auf. Reagiert der Fahrer nicht oder zu verhalten, übernimmt der Bremsassistent den Job.

Praxis: Alle Funktionen sind absolut sinnvoll und sollten so schnell wie möglich auch in kleineren Fahrzeugen eingebaut werden. Die autonomen Systeme sind zurzeit leider meist nur in den größeren Klassen gegen deftige Aufpreise und im Paket mit weiteren Optionen zu haben.

Drive Pilot

 

Theorie: Die Kombination aus allen bisher genannten Systemen hat Mercedes erstmals in der neuen E-Klasse zu einem System vereint. Es korrigiert automatisch die Spur, den Abstand, das Tempo und überholt auch noch selbsttätig, wenn man den Blinker setzt und die Lücke auf der Überholspur groß genug ist.

Praxis: Bei gleichmäßiger Fahrt auf der Autobahn funktioniert es schon ganz gut, solange die Kurvenradien nicht zu klein sind und mindestens zwei Finger im Lenkradkranz liegen.

Fußgängererkennung

 

Theorie: Das System detektiert Fußgänger am Straßenrand und warnt optisch und akustisch Fahrer wie Fußgänger, wenn sie sich der Fahrbahn nähern und vors Auto laufen könnten. Notfalls auch mit einer Vollbremsung aus 50 km/h.

Praxis: Sinnvolles Feature, vor allem im unübersichtlichen Großstadtgewühl oder in zugeparkten Wohngegenden, wo der berüchtigte Ball plötzlich auf die Straße springt.

Pre-Collision-System

 

Theorie: Bei einem drohenden Crash werden die Gurte gestrafft, die Insassen tiefer in den Sitz gezogen, Fenster und Schiebedach geschlossen und der Bremsdruck aufgebaut, um schnelle und effektive Bremswirkung zu erzielen.

Praxis: In jedem Fall sinnvoll, um die Folgen eines Unfalls zu mildern.

Parkpieper/Rückfahrkamera

 

Theorie: Wie das ESP gehören Parkpieper im Heck oder eine Rückfahrkamera inzwischen schon fast zum Kleinwagen-Standard. Auch vorne gibt es inzwischen immer mehr.

Praxis: Hinten sinnvoll wegen zunehmend mangelnder Rundumsicht. Frontpieper meist eher überflüssig. Die Kamera kann schnell verdrecken oder die Darstellung verzerrt wiedergeben. Als Bird-View-Darstellung von oben oder 360-Grad-Rundumsicht ist das System sinnvoller – aber auch teurer.

Parklenkassistent/Parkpilot

 

Theorie: Ultraschallsensoren spüren bei langsamer Vorbeifahrt geeignete Längs- und Querparklücken auf. Ist eine gefunden, signalisiert das System Bereitschaft. Der Fahrer muss dann nur noch den Rückwärtsgang einlegen und das Auto kurbelt sich selbstständig in die Parkbucht. Der nächste Step ist das Ein- und Ausparken außerhalb des Fahrzeugs mit dem Schlüssel oder Smartphone.

Praxis: Fahrer, die ihr Auto kennen, können darauf gut verzichten. Die Systeme benötigen beim Längsparken sehr große Lücken. Auch ist die Präzision nicht immer gewährleistet, Begrenzungssteine, Pfähle oder andere kleinere Hindernisse können schnell übersehen werden.

Querverkehrsassistent

 

Theorie: Ultraschallsensoren im Heck- und Seitenbereich erfassen den Bereich links und rechts vom Auto und können so beim rückwärtigen Ausparken vor anderen Fahrzeugen warnen. Bei Audi kommen sogar Radarsensoren zum Einsatz, die Abstand, Geschwindigkeit und den voraussichtlichen Fahrtweg der erkannten Autos zu einem möglichen Kollisionsrisiko interpretieren. Das System warnt außerdem beim Türöffnen vor nahenden Radfahrern oder anderen Fahrzeugen.

Praxis: Kann in unübersichtlichen Situationen sicher den einen oder anderen Rempler verhindern, vorsichtiges und rücksichtsvolles Heraus- oder Hineintasten erfüllt aber den gleichen Zweck – und ist deutlich günstiger.

Lichtautomatik/Fernlichtassistent/Matrix-Licht

 

Theorie: Die Lichtautomatik aktiviert bei Dunkelheit Abblend- und /oder Fernlicht und reguliert bei Gegenverkehr entsprechend rauf und runter. Das Fernlicht muss nicht mehr ausgeschaltet werden. Laser- und Matrix-LED-Scheinwerfer strahlen sehr hell und weit und können gezielt einzelne Objekte aus dem Lichtkegel ausschneiden.

Praxis: Bei Tunnelstrecken und langen Nachtfahrten eine große Entlastung. Allerdings reagieren die Sensoren nicht immer verlässlich auf Nebel, Regen oder starke Bewölkung. Besser wäre eine Koppelung an Scheibenwischer. Bei den meisten Systemen fehlt bei Tageslicht das optische Feedback im Cockpit. Im Zweifel ist der konzentrierte Mensch, mit nur einer Handbewegung, immer besser.

Nachtsichtassistent

 

Theorie: Infrarot-Nachtsichtgerät, kann Menschen und (große) Tiere wie Rotwild, Pferde oder Kühe in der Dunkelheit lange vor deren Sichtbarkeit erkennen und auf dem Display im Kombiinstrument rot markieren.

Praxis: Nicht immer zuverlässig. Sinnvoll ist eine Kombination mit Anzeige im Head-up-Display oder Kombiinstrument, damit der Blick auf der Straße bleiben kann. Das System ist derzeit noch sehr teuer, deshalb auch nur in der Oberklasse zu haben.

Müdigkeitswarner

 

Theorie: Müdigkeit und Sekundenschlaf sind häufige Unfallursachen. Die Systeme erkennen anhand des Fahr- und Lenkverhaltens, der Fahrzeit, manche auch durch Beobachtung der Gesichter, Anzeichen von Unaufmerksamkeiten und aufkommende Müdigkeit. Dann fordert ein Kaffeetassensymbol im Display zu einer Pause auf.

Praxis: Die "Diagnosen" kommen mitunter willkürlich. In zwei Stunden einige Male beim Spurwechsel nicht geblinkt, schon erscheint die Kaffeetasse. Dabei bleiben die Warnungen nur optische Empfehlungen und haben keinen Einfluss auf die Funktionalität des Wagens.

Prädiktiver Effizienzassistent

 

Theorie: Den hat sich Audi ausgedacht, um Sprit zu sparen. Bei aktiviertem ACC passt das System die vorgewählte Geschwindigkeit vorausschauend und selbstständig an den Streckenverlauf, an die Topografie, Tempolimits und vorausfahrende Fahrzeuge an. Lange bevor der Fahrer es sieht, erkennt der Assistent Kurven, Kreisverkehre, Kreuzungen, Gefällabschnitte, Ortschaften oder Tempolimit-Schilder.

Praxis: Läuft dem natürlichen Empfinden zuwider, plötzliche Verzögerungen und Bremsungen irritieren und sind ohne ersichtlichen Grund oft nicht nachzuvollziehen. Das System ist extrem abhängig von exakten Navigationsdaten.

Verkehrszeichen-Erkennung

 

Theorie: Eine Kamera scannt vor allem Tempolimits und Ortsschilder und zeigt sie im Navigationsmonitor oder Instrumentendisplay. Teilweise passt das System automatisch die Geschwindigkeit an. In der Light-Version greift das Navi auf gespeicherte Kartendaten zurück, variable Tempolimits werden dann nicht angezeigt.

Praxis: Nicht immer verlässlich, abhängig von Lichtverhältnissen und Verschmutzung, Schilderbrücken mit variablen Anzeigen werden nicht immer zuverlässig erkannt, besonders ärgerlich, wenn Tempolimits nicht aufgehoben wurden oder das System es nicht erkannt hat, als Einzeloption meist zu teuer.

Head-up-Display

 

Theorie: Daten wie Geschwindigkeit oder Navigationshinweise werden in die Frontscheibe, bei günstigeren Varianten auf eine ausfahrbare Plastikscheibe oberhalb der Cockpits, in Sichtweite des Fahrers projiziert.

Praxis: Eine sinnvolle Erweiterung, die einen schnellen Überblick ermöglicht, ohne den Blick von der Straße nehmen zu müssen. Je nach Sonnenstand und Helligkeit kann die Sichtbarkeit eingeschränkt sein, mit polarisierten Sonnenbrillen ist gar nichts zu sehen.

 

PRO Assistenzsysteme:
Gunnar Beer, Redakteur Test und Technik

Als typischer Pendler hätte ich überhaupt nichts gegen eine Art autonom fahrende Kapsel einzuwenden, die mich morgens an der Haustüre abholt und selbsttätig zur Arbeit bringt. So könnte ich die Stunde nutzen, um zu arbeiten, statt mich über das unfaire und manchmal sogar asoziale Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer zu ärgern. Bis zu zwei Stunden Arbeits- beziehungsweise Freizeit pro Tag könnte ich so dazugewinnen und wäre trotzdem individuell unterwegs. Ich bestimme nach wie vor, wann und wohin ich will. Ein eigenes Auto samt Fixkosten bräuchte ich dafür nicht mehr. Zahlen würde ich ja nur für die Zeit, in der ich das Mobil auch tatsächlich nutze. Sicherlich würden viele Pendler gern auf diese neue Möglichkeit umsteigen. Die Städte wären entlastet, der Berufsverkehr würde ganz sicher besser laufen. Denn das übersteigerte Ego so manchen Autofahrers und das vermeintliche Recht des Stärkeren würde mit den vorsichtig und gemeinschaftlich agierenden autonomen Fahrzeugen im Individualverkehr keine Rolle mehr spielen. Autonomes Fahren? Aber sicher! Und zwar lieber heute noch als morgen!