Die meisten Menschen waren Anfang des 19. Jahrhunderts nicht sonderlich mobil. Davon abgesehen, dass die Residenzpflicht ihnen keine weiteren Reisen erlaubte, standen ihnen als Fortbewegungsmittel nur die eigenen Füße zur Verfügung – normale Bürger blieben ein Leben lang im Gebiet um ihren Heimatort. Das änderte sich am 12. Juni 1817. Karl Freiherr von Drais fuhr mit seiner Laufmaschine von der Mannheimer Innenstadt bis zu einer Pferdewechselstation Richtung Schwetzingen und zurück. Mit seiner Erfindung schuf er die Grundlagen nicht nur fürs Fahrrad, sondern auch für Auto und Flugzeug und damit zur individuellen Massenmobilität. Für die 14 Kilometer benötigte er eine Stunde. „Für die damalige Zeit war das sehr flott“, erzählt Dr. Thomas Kosche, der Kurator einer Ausstellung im Technoseum Mannheim anlässlich des 200. Jahrestages von Draisʼ Jungfernfahrt.
Zunächst für Männer mit Geld
Die Laufmaschine des Mannheimer Tüftlers war so einfach wie genial: Sie hatte zwei Räder, war lenkbar und hatte schon einen Nachlauf. Das heißt, die Räder wurden immer wieder ausgerichtet und die Laufmaschine dadurch nicht geschoben, sondern gezogen – so war das Holzgestell mit Eisenrädern fahrbar und stabil. Auch Sattel und Lenker waren übrigens bei diesem ersten Modell bereits höhenverstellbar. Wer eine Laufmaschine von Drais erwerben wollte, hatte dafür zwei Möglichkeiten: Man konnte sie direkt bei ihm in Auftrag geben oder eine Lizenz erwerben und bei einem Wagner seiner Wahl bauen lassen. Die Original-Laufmaschinen der Ausstellung stammen allesamt aus Adelshäusern – ein Hinweis darauf, an wen Drais seine Erfindung verkaufte. Für junge Männer mit Geld war die Laufmaschine eine beliebte Freizeitbeschäftigung, es gibt Hinweise, dass sich bereits damals „Radrüpel“ unter den Nutzern befanden. Denn bereits 1817 wurde das Fahren auf Bürgersteigen verboten. Zwei Jahre später wurde die Nutzung der Laufmaschine sogar auf einen Hauptweg im Schlossgarten beschränkt – der erste Fahrradweg der Geschichte.
Mehr Räder dank Asphalt
Die nächste technische Innovation ließ rund 40 Jahre auf sich warten und fand in Frankreich, genauer gesagt in Paris, statt. Der Legende nach brachte der Sohn des französischen Wagenbauers Pierre Michaux seinen Vater auf die Idee, am Vorderrad Tretkurbeln anzubringen. Auf der Pariser Weltausstellung wurden die „Tretkurbelvelocipede“ vorgestellt und lösten einen ersten regelrechten Fahrradboom aus.
Dabei spielte der Zustand der Radwege schon damals eine wichtige Rolle. So wie heute in Städten, die in ein gutes Radwegenetz investieren, viel mehr Menschen aufs Rad umsteigen, so trug in Paris die beginnende Asphaltierung der Straßen und Wege entscheidend zur Verbreitung bei.
Im Rausch der Geschwindigkeit
Durch höhere Geschwindigkeiten dank technischer Innovationen und den besseren Zustand der Straßen wurde Radfahren immer mehr zum Risikosport. Einen Freilauf hatten die Räder noch nicht, bei höheren Geschwindigkeiten mussten die Füße von den Pedalen genommen werden. Die Gier nach Geschwindigkeit führte um 1880 dazu, dass das Vorderrad bis auf Mannshöhe anwuchs. So wurde das Fahrradfahren, ohne mit den Füßen Bodenkontakt zu haben, endgültig zur Mutprobe. „Das Fahren selbst ist mit dem Hochrad nicht schwerer“, erklärt Kurator Kosche. „Das Problem ist das Runterkommen. Und wer noch nicht Fahrradfahren gelernt hat, hat mit dem Hochrad ziemlich große Probleme, es zu lernen.“ Heftige Stürze waren damals an der Tagesordnung.
Vorbild für Auto und Flugzeug
Wer sich als Mann nicht aufs Hochrad traute – oder als Frau zu der damaligen Zeit besonders kühn war –, fuhr Dreirad. Dieses Tricycle war nur kurze Zeit später übrigens das Vorbild für das erste Auto, schon der Name „Benzvelo“ gibt einen Hinweis auf die Erfindung Draisʼ. In dem Gefährt, das Berta Benz über 70 Jahre nach Draisʼ Fahrt ebenfalls in Mannheim startete, steckte jede Menge Fahrradtechnik. Und auch das Flugzeug wäre ohne Draisʼ Erfindung nicht denkbar. Die Gebrüder Wright waren ursprünglich Fahrradmonteure. Das Hochrad erwies sich schnell als alles andere als alltagstauglich, zu häufig gab es tödliche Unfälle. So dauerte es nicht lange bis zur nächsten Stufe der Evolution – das Sicherheitsniederrad wurde in England erfunden, damit hat das Fahrrad seine heutige Form erhalten. Bis es aber wirklich alltagstauglich wurde, waren noch zwei Erfindungen notwendig. Zum einen der Kettenantrieb, zum anderen der luftgefüllte Reifen, den der Ire John Boyd Dunlop 1888 erfand. Damit war endlich auch das Niederrad komfortabel im Fahrverhalten, außerdem war es nun möglich, leichtere Rahmen zu bauen. Fahrräder aus Holz, Aluminium oder Bambus wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts hergestellt.
Massenproduktion in Fabriken
Noch zwei Erfindungen fehlten zum Rad, wie wir es heute kennen. Der anfangs sehr umstrittene Freilauf wurde erst gemeinsam mit der Rücktrittbremse Ende des 19. Jahrhunderts von den Radfahrern akzeptiert, die Zwei-Gang-Schaltung folgte dann Anfang des 20. Jahrhunderts. Da sich gleichzeitig die Produktionsbedingungen änderten und Fahrräder nicht mehr länger vom Wagner in Handarbeit, sondern serienmäßig in Fabriken hergestellt wurden, wurden sie auch für die breite Masse erschwinglich. Die höheren Schichten stiegen aber da bereits aufs Auto um. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland so viele Fahrräder produziert und gekauft wie niemals zuvor und auch seitdem nicht mehr. Allein in Westdeutschland wurden 1950 1,4 Millionen Fahrräder gebaut. Mit steigendem Wohlstand stiegen die Bundesbürger aber immer mehr aufs Auto um. Ein Umstand, der wohl auch zu den vielen „Wohlstandsbäuchen“ in den 50er- und 60er- Jahren beitrug. Erst Ende der 70er-Jahre, mit der Fitnesswelle, begann eine kleine Renaissance, das Fahrrad wurde als Sportgerät entdeckt. Oder auch nur als Autozubehör, wie etwa das Klapprad zeigt, das in der Mannheimer Ausstellung in einem Kofferraum liegt.
Trends von gestern heute umgesetzt
Vermeintlich neue Trends sind ein alter Hut, wie man im Technoseum erfahren kann. So gab es bereits Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Versuche, das Fahrrad zu motorisieren – die große Herausforderung war aber schon damals die Batterie. Erst seit wenigen Jahren ist dieses Problem jetzt gelöst, Akkus sind klein und handlich, die Reichweite wird immer größer. Pedelecs haben den jüngsten Fahrradboom ausgelöst, auch ältere Menschen steigen neuerdings wieder vermehrt aufs Fahrrad. Nicht nur deshalb sieht Thomas Kosche die Zukunft des Fahrrads „uneingeschränkt positiv“. Denn „es funktioniert immer und überall, nimmt wenig Platz weg, ist leicht und mit wenig technischem Sachverstand zu reparieren“. Auf langen Strecken werde es zwar das Auto nie schlagen, „den Verbrennungsmotor wird es aber auf jeden Fall überleben“.
Die Ausstellung im Technoseum Mannheim ist täglich von 9 bis 17 Uhr geöffnet und läuft noch bis 25. Juni 2017. www.technoseum.de