01.02.2016

Verkehrserziehung – Harte Realität

Junge Autofahrer sind im Straßenverkehr besonders gefährdet, sie verunglücken überproportional häufig. Ein Programm in Nordrhein-Westfalen setzt auf die ungeschminkte Konfrontation mit der Realität. Mit Erfolg.

Anna Kiesow ist die Erste. Die 28-jährige Polizistin steht auf der Bühne der Aula in der Gesamtschule Schermbeck, hält das Mikrofon in der Hand, schweigt und schaut auf den Boden. Es sieht aus, als würde sie Kraft sammeln für die Minuten, die jetzt vor ihr liegen. Es ist still im Saal. Würde die sprichwörtliche Stecknadel jetzt fallen, es klänge wie ein Donnerschlag. Noch vor wenigen Minuten war die Atmosphäre locker und gelöst. In kleinen Grüppchen kamen die Schüler lachend und schwatzend in die Aula, suchten sich ihre Plätze. Der "Crash Kurs" steht heute auf dem Stundenplan, Verkehrserziehung in Nordrhein-Westfalen für junge Fahranfänger. Eigentlich wissen sie, was kommt, sie kennen die Regeln. Du musst, du sollst, du darfst nicht. Nicht zu schnell fahren, kein Alkohol, keine Drogen und immer auf die Straße schauen. Nicht ablenken lassen, auf keinen Fall das Smartphone benutzen. Sie haben es doch schon so oft gehört. Aber der "Crash Kurs" ist anders. Hier geht es um die Realität. Ungeschönt. Wer sie nicht ertragen kann, darf aufstehen und den Saal verlassen – darauf hat der Direktor vorher extra hingewiesen. Die Lichter gehen aus, der "Crash Kurs" beginnt.

Die Realität wird ungeschönt gezeigt

Laute Musik, ohrenbetäubend. Dazu diese Bilder, echte Bilder. Sie zeigen ungeschönt, gestochen scharf und in Großaufnahme die Situationen nach der Alkoholfahrt, nach dem Zu-schnell-Fahren, nach dem fatalen Griff zum Smartphone.

Und nun steht Anna Kiesow auf der Bühne. Langsam hebt sie den Kopf, schaut ins Publikum oder durch die Schüler hindurch in die Vergangenheit und beginnt zu erzählen. Sie erzählt von einer Nacht während ihres ersten Praktikums bei der Polizei. Es war eine ruhige Schicht, mit ihren Kollegen war sie bei einer Fahrzeugkontrolle, als die Meldung über Funk kam: "VU mit". Also ein Verkehrsunfall mit Personenschaden. Ruhig, beinahe schon emotionslos schildert sie, was sich in jener Nacht zugetragen hat, und vor dem inneren Auge der Zuhörer entstehen Bilder, denen sich keiner entziehen kann. Gebannt hängen alle an den Lippen der jungen Polizistin. Eine Frau war mit ihrem Auto unterwegs, gleichzeitig auch zwei 17-Jährige mit dem Fahrrad ohne Licht. Einer von ihnen fuhr ganz plötzlich auf die Straße, die Frau hatte keine Chance auszuweichen. Er liegt jetzt auf der Straße, wird wiederbelebt. Ihr Ausbilder sagt zu Anna Kiesow, sie solle sich um die Unfallfahrerin kümmern. "Ich zitterte am ganzen Körper, es war so still. Nur der Freund schrie immer wieder: ,Du darfst nicht sterben.‘ Die Autofahrerin weinte: ,Ich habe einen Menschen getötet.‘ Dann kam die Meldung, dass der Radfahrer verstorben ist. Ich habe mich leer und hilflos gefühlt." Doch das Schlimmste für Anna Kiesow kam eine Woche später. "Ich musste den Inhalt seiner Geldbörse aufschreiben. Ich sah mir lange sein Bild an und dachte – diesen Menschen gibt es jetzt nicht mehr."

Stille. Anna Kiesow verlässt die Bühne.

"Ich wurde nachts um zwei wegen eines Unfalls angerufen", erzählt der Verkehrsunfallsachbearbeiter Franz-Josef Kuhmann. "Als Erstes habe ich nachgeschaut, ob meine eigenen Kinder zu Hause sind." Sie waren es, er fuhr los, zu einer Scheunenparty. Dort hatte einige Stunden zuvor der Abend fröhlich begonnen, ein 18. Geburtstag wurde gefeiert. Das Geburtstagskind hatte seine Freundin mit dem Auto abgeholt, die Party war nur 300 Meter von ihrem Elternhaus entfernt – aber der frisch erworbene Führerschein sollte ja auch gefeiert werden. Den Rückweg wollten sie selbstverständlich zu Fuß antreten – es war ja nicht weit und der Alkohol floss an diesem Abend in Strömen. Doch am Ende der Party regnete es auch in Strömen und seine Freundin wollte nicht nass werden. Deshalb setzte sich der Fahranfänger doch hinters Steuer. Schon auf dem Parkplatz fuhr er gegen ein Tor, Freunde wollten ihn noch vom Fahren abhalten. Chancenlos. Wasser stand auf der Straße, er fuhr zu schnell, kam von der Straße ab und das Auto landete im Acker. Leider stand auch ein Strommast auf dem Acker. "Als wir am Unfallort ankamen, sahen wir, dass die Beifahrerseite 80 Zentimeter in das Auto gedrückt war. Es war schwierig, die Beifahrerin zu bergen", sagt Kuhmann, dessen Stimme man anhört, wie sehr ihn diese Nacht mitgenommen hat. "Sie hat überlebt. Aber sie wird ihr Leben lang im Rollstuhl sitzen." Und er schließt seinen Vortrag mit einem Appell: "Stellt euch vors Auto eurer Freunde, lasst sie nicht fahren! Wenn wir uns in einem Jahr wieder treffen, wünsche ich mir, dass die gleiche Anzahl Leute, dieselben Personen, hier sitzen."

Die Stille wird drückender, kurz ist ein heftiges Ausatmen zu hören, als ein Foto von dem Unfall gezeigt wird.

Die Frage nach dem "Warum?" bleibt unbeantwortet

Wem alles zu viel wird, wer die Schilderungen, die Fotos, nicht ertragen kann, der darf den Saal verlassen – darauf wurde im Vorfeld eindringlich hingewiesen. Die Schüler sollen mit der Realität konfrontiert werden, aber nur so weit, wie sie sie auch ertragen können. Schwer zu ertragen ist aber etwas anderes, etwas, vor dem man nicht davonlaufen kann. Es sind die Bilder im Kopf, die sich jetzt einstellen. Erinnerungen an Situationen, die für einen selbst auch ganz schnell ganz anders hätten enden können. Hier doch noch einen Tick schneller gefahren, dort einen Sekundenbruchteil später gebremst – was wäre dann geschehen? Und nahezu unerträglich ist die Sinnlosigkeit der geschilderten Unfälle. Sie hätten einfach nicht sein müssen. Und so bleibt die drängende Frage nach dem "Warum?" unbeantwortet.

Als Letzte kommt die Notfallseelsorgerin Eva Holthuis auf die Bühne. "Der von dir verursachte Tod", so beginnt sie ihren Vortrag. Und sie erzählt, wie es sich anfühlt, wenn ihr Bereitschaftshandy klingelt. Sie muss eine Todesnachricht überbringen. Und diese Nachricht trifft Menschen plötzlich und unvorbereitet. So war es auch für die Mutter, den Freund und die Schwester von Julia. Die 20-Jährige war in einer harmlosen Rechtskurve aus ungeklärten Gründen von der Straße abgekommen und mit einem anderen Auto zusammengestoßen. "Wir sitzen mit der Mutter und der Schwester am Küchentisch", erzählt Holthuis. "Der ganze Körper ist ein einziger stummer Schrei. Sie wollen nicht glauben, was sie da hören, sie können es nicht. Nur langsam begreifen sie, was passiert ist. ‚Julia war die Frau für mich, wir wollten zusammenziehen‘, sagt der Freund. ‚Ich habe mein Kind verloren‘, sagt die Mutter. Sie sagt es wieder und wieder und wieder. Die Schwester: 'Ich fühle nichts, wie soll ich je wieder lachen können?‘" Und Eva Holthuis erklärt den Schülern: "Die Zukunft ist gestorben. Nicht nur die von Julia, auch die ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihres Freunds."
 
"Ich hoffe, dass ich nie vor der Tür deiner Eltern stehe und ihnen sagen muss, dass du bei einem Unfall ums Leben gekommen bist." Dann verlässt die Notfallseelsorgerin die Bühne und hinterlässt – Stille.

Lebensträume sollen nicht zerplatzen

Spätestens jetzt fällt es schwer, Tränen zurückzuhalten. Zu deutlich steht diese Szene vor dem inneren Auge. Wenn die Notfallseelsorger ins eigene Haus kommen. Das möchte niemand erleben und auch nicht Schuld daran haben, dass es andere Menschen, die, die man liebt, erleben müssen. Wegen so etwas Sinnlosem wie einem Blick aufs Smartphone oder einer falschen Entscheidung, wie den Verzicht aufs Taxi, nachdem man etwas getrunken hat.

Vor der Veranstaltung haben die Jugendlichen ihre Träume und Ziele auf einen Zettel geschrieben. Diese Zettel kleben jetzt an einem Luftballon. Sie wünschen sich Familie, einen guten Job, ein schönes Leben. Franz-Josef Kuhmann steht neben dem Luftballon. Es wäre für ihn ein Einfaches, jetzt mit einer Nadel in den Ballon zu stechen und diesen in einem Sekundenbruchteil zum Platzen zu bringen. Er macht es nicht, er gibt einen letzten Appell mit auf den Weg: "Wenn ihr vor der Wahl steht, zu einem Betrunkenen ins Auto zu steigen, dann denkt vielleicht an diese Veranstaltung zurück und tut es nicht. Damit eure Lebensträume nicht zerplatzen." Das Licht geht an, die Schüler stehen auf und verlassen den Raum. Reden? Jetzt lieber nicht.

Crash Kurs NRW

Seit 2010 werden jährlich rund 450 "Crash Kurse" an Schulen in Nordrhein-Westfalen abgehalten, rund die Hälfte eines Jahrgangs, etwa 122.000 Schüler, werden erreicht. Bei den Veranstaltungen stehen die Emotionen im Vordergrund, Ziel ist es, die Teilnehmer mit der Realität zu konfrontieren und damit dauerhafte, positive Verhaltensänderungen zu bewirken. In wechselnden Besetzungen berichten Polizisten, Feuerwehrleute, Notfallseelsorger, Notärzte, Verkehrsunfallopfer oder deren Angehörige von ihren Erfahrungen, was sie erlebt und was sie gefühlt haben. Die meisten Unfälle wären vermeidbar gewesen, wenn Regeln eingehalten worden wären. Den Schülern wird so klargemacht, dass
sie Verantwortung im Straßenverkehr tragen, nicht nur wenn sie selbst am Steuer sitzen. Seit das Programm eingeführt wurde, sind die Unfallzahlen
von jugendlichen Autofahrern in NRW rückläufig.