Herr Professor Kaschuba, auch wenn Reisewarnungen und Einreisebeschränkungen inzwischen aufgehoben worden sind, ist die Verunsicherung groß. Warum trifft es die Deutschen besonders hart, wenn sie nicht so reisen können wie gewohnt?
Die Deutschen lernten schon ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert von Goethe bis Thomas Mann, wie fremde Orte und Landschaften aussehen. Diese Entwicklung, dass also durch Literatur, aber auch Malerei und später den Film eine attraktive Welturlaubskulisse dargestellt worden ist, ist stärker ausgeprägt als in vielen Nachbarländern. Deswegen entsteht sehr früh ein Auslandstourismus, der andere Gesellschaften nicht so prägt. Wenn heute der Urlaub wegfällt, weil durch vorgenommene Urlaube, Homeoffice und andere Dinge die finanziellen Ressourcen erschöpft sind, fällt ein emotionaler Höhepunkt im Jahr weg, der für die viele Menschen in Deutschland wichtiger ist, als das Weihnachtsfest.
Was bedeutet das für uns als verwöhntes Urlaubswesen?
Wenn vielleicht zehn Millionen Familienurlaube gecancelt werden, umdisponiert werden, von Portugal in den Bayerischen Wald verlegt werden, dann wird der Urlaub unter ganz anderen Bedingungen stattfinden. Jetzt tritt eine kollektive Urlaubsortsuche auf, das hat es in der Form noch nie gegeben. Der Urlaub ist deshalb einer der großen Paradigmenwechsel, die wir jetzt haben, weil wir eben nicht das tun können, was wir immer getan haben. Jetzt müssen wir improvisieren, kreativ sein. Dieses Sich-selber-neu-Erfinden als Urlaubswesen, das finde ich im Moment die spannende Aufgabe. Der Homo touristicus wird sich neu erfinden müssen.
Was bedeutet diese Kreativität? Wie können zum Beispiel Familien mit Kindern das Beste daraus machen, wenn es in diesem Jahr mal nicht ins Ausland geht?
Gefragt ist, wie kompromissfähig wir in unseren Wünschen und Bedürfnissen sind. Die gemeinsame Planung, sich auf bestimmte Dinge freuen – das funktioniert auch unabhängig vom Urlaubsziel. Der Urlaub bietet für die Familienmitglieder weiter die Möglichkeit, eine andere Rolle zu spielen, Eltern können ihren Kindern mehr Zeit zuwenden. Eine Gestaltungsmöglichkeit ist jetzt das, was wir die Exotisierung der Nahwelt nennen – also ein bisschen die Lupe aufklappen. Im 18. Jahrhundert hat ein Franzose das Modell der Zimmerreise entdeckt. Er wurde zu 14 Tagen Hausarrest verurteilt und hat sein Zimmer als Weltlandschaft entdeckt, die Spinne in der Ecke genauer betrachtet oder die Holzstrukturen im Boden. Durch die geringere Mobilität in der Corona-Zeit wird auch unsere Nahwelt größer und bestenfalls interessanter. Wir werden nicht von der dramatischen Landschaft, von der Sonne und vom Meer unterhalten, sondern wir unterhalten uns selber auch in einer weniger dramatischen Landschaft.
Wie können es sich die urlaubenden Menschen konkret in dieser Nahwelt einrichten?
Ich beobachte, dass im Inland ein neues Muster des Aktivurlaubs entsteht, mit dem Eltern versuchen, ihre Kinder zu motivieren. Sie unternehmen Fahrradtouren durch die Stadt, durch Parks, durch die Nahregion, oder sie unternehmen Wanderungen, machen Schatzsuchen. Es geht im Grunde darum, sich zu aktivieren, nicht mehr darum, sich passiv an den Strand zu legen. Das wird auch den Reisemarkt verändern. Die Angebote von Rad bis Kajak, von Wandern bis Bauernhof werden jetzt sicher von den Gästen mehr als sonst goutiert werden. Und ein bisschen Retrokultur wird es geben, etwas von der Urlaubskultur der Fünfzigerjahre. Nehmen Sie den Urlaub auf dem Bauernhof: Man sagt sich wieder: Na okay, gesunde Umwelt, viel frische Luft, das genügt. Und dann bieten solche Urlaubsformen ja auch besser die Möglichkeit, Abstand zum Anderen halten. Man hat in der Regel nicht die enge Wohnsituation wie in Hotels.
Wenn die Eltern zu Animateuren werden, bleibt womöglich die Entspannung auf der Strecke. Oder gilt anders herum, dass auch Stress und sozialer Druck entfallen nach dem Motto „Vor Corona sind alle gleich“?
Wenn das richtig ist, dass aktivere Muster gesucht werden, dann wird darin die neue Form der Entspannung liegen. Dieses Irgendwohin-Fliegen, am Strand sein Handtuch ausrollen und Luft rauslassen bei sich selber, das gibt es so nicht mehr. Und damit spielen Statusurlaube – je weiter die Entfernung, desto teurer die Reise, umso exklusiver – eine geringere Rolle. Dabei reden wir nicht von den oberen Zehntausend, die alle Grenzen umfliegen und alles umgehen können. Doch unterhalb dieser exklusiven Schicht führen die Corona-Folgen zu einer stärkeren Gleichmacherei. Wir haben es mit einer Vermassung der Urlaubsformen zu tun: Vorher war immer die Welt der Horizont, und jetzt ist es für sehr viele Menschen wieder ein nationaler Horizont.
Ein Horizont, der notgedrungen schon mal am Gartenzaun endet. Kann das Zuhausebleiben auch entspannen? Schließlich muss man auch nichts planen, packen, der Reisestress entfällt, hat in budgetschwachen Zeiten weniger Kosten.
Möglicherweise. Ob diese Art der Entspannung möglich ist, ist immer eine Frage der Erwartungshorizonte, wie sich vor allem Familien mit Kindern darauf einlassen können. Aber ich glaube, viele werden dazu verurteilt sein. Interessanterweise ist der Absatz an Strandkörben in den Baumärkten stark angestiegen – ein Indiz. Viele Leute sagen sich offenbar: Wenn schon nicht am Strand habe ich wenigstens einen im Garten. Dann machen wir eben Urlaub auf Balkonien oder im Garten.
Wenn es voll wird im eigenen Land, dann könnten Unterkünfte schnell überfüllt sein – zumal, wenn es Auflagen gibt, die Bettenbelegung zu reduzieren, damit die Gäste beim Frühstück Abstand zueinander halten können. Steigen die Preise?
Eine Tendenz wird sicherlich sein, dass die Urlaubsregionen Pakete verkaufen. Zum Beispiel, dass man am Nord- oder Ostseestrand zusätzlich zur Unterkunft gleich einen Strandkorb mitmieten muss – als Voraussetzung dafür, dass ich überhaupt einen Platz bekomme. Wenn so verfahren wird, steigen die Preise. Für die Urlaubsregionen ist das nebenbei ein Weg, die zahlungskräftige Mittelschicht anzulocken. Das würde andererseits aber teurer als es sich viele Familien leisten können. Die zentrale Frage ist, ob Urlaubsregionen hier regulierend eingreifen sollten.