Ganzjahresreifen erfreuen sich steigender Beliebtheit. Die Allwetter- oder All-Season-Reifen mit M&S-Kennzeichnung versprechen allerdings auch viel: Vorausgesetzt die Reifen würden tatsächlich das ganze Jahr über funktionieren, könnte damit nicht nur der Stress des Wechselns zum richtigen Zeitpunkt entfallen, auch der Platz in Keller oder Garage für den zweiten Reifensatz könnte endlich sinnvoller genutzt werden. Von den gesparten Kosten für Reifen, Felgen und Drucksensoren (sofern vorhanden) ganz zu schweigen. Grund genug für ACE LENKRAD und den Partnerklub ARBÖ, zehn dieser Alleskönner genauestens unter die Lupe zu nehmen. Dazu je einen Sommer- und Winterspezialisten als Referenz.
Winterreifen haben nur eine bedingte Tauglichkeit im Sommer
Ein Thema ist dabei die Tauglichkeit auf Schnee, ein anderes aber die generelle Tauglichkeit von Winterreifen im Sommer. Denn Reifen mit M&S-Symbol sind im Sommer durchaus erlaubt und so sieht man bis weit in den Frühling hinein viele Fahrzeuge noch auf Reifen über die bereits warmen, trockenen Straßen rollen, die eigentlich für frostige Bedingungen optimiert wurden. Ob aus Bequemlichkeit oder weil man nicht sicher sein kann, ob doch noch eine Frostperiode bevorsteht: Das ist alles andere als ideal! Die Lenkpräzision und vor allem die Bremswege fallen deutlich bescheidener aus, vom zügigen Verschleiß der weichen Gummimischung ganz zu schweigen.
Ein erster Test der Spezialisten in der jeweiligen Jahreszeit zeigt die Problematik: Der Sommerreifen Conti PremiumContact 5 bringt den 100 km/h schnellen VW Golf bei einer Vollbremsung auf trockener Straße in 37,8 Metern zum Stillstand. Mit dem Dunlop Winter Sport 5, einem anerkannt guten Winterreifen, werden auf demselben Stück Asphalt für die gleiche Übung 45,7 Meter benötigt. Ein ganz erheblicher Unterschied von fast zwei Autolängen, der seine Ursache in der besonderen Konstruktion von Winterreifen hat. Die vielen kleinen Lamellen und ein höherer Negativanteil im Profil fordern ihren Tribut.
Sind Ganzjahresreifen eine Alternative?
Die Ganzjahresreifen sollten auf trockener Straße, die über das Jahr hinweg gesehen doch der vorherrschende Fahrbahnzustand ist, ja eigentlich etwas besser sein, oder?
Doch sie sind es nicht. Die (bis auf eine Ausnahme) durch die Bank ebenfalls mit zahlreichen Lamellen, weicher Mischung und großer Profiltiefe versehenen Ganzjahresreifen liegen in der Tat näher am Winterreifen. Sowohl was die Profilgestaltung angeht als auch die Bremswege auf trockener Straße. Um die 45 Meter Bremsweg sind die Regel, der Uniroyal und der Vredestein brauchen sogar noch ein bis zwei Meter mehr.
Michelin hat mit Abstand den besten Bremsweg auf Fahrbahn
Der einzige Reifen, der sich mit einem Bremsweg von 41,6 Metern achtbar schlägt, ist der Michelin Cross Climate, der von den Franzosen auch als Sommerreifen mit Wintereigenschaften beworben wird. Das Profil unterscheidet sich deutlich von dem der Wettbewerber – statt Lamellen sollen hier scharfe Kanten an den pfeilförmigen Blöcken für die nötige Haftung auf Schnee sorgen. Den Rest muss die fortschrittliche Gummimischung besorgen. Das funktioniert, zumindest beim Bremsen, sogar ziemlich gut. Die Versuche nördlich des Polarkreises bei frostigen –15 Grad ergeben einen Anhalteweg von knapp 29 Metern aus Tempo 50. Zum Vergleich: Der reine Winterreifen benötigt rund 25 Meter. Der Rest des Teilnehmerfeldes sortiert sich zwischen 27 und 30 Metern ein.
Zwei Reifen sorgen allerdings mit sehr langen Bremswegen von fast 35 Metern für lange Gesichter: Dem Bridgestone A001 und dem Pirelli All Season schmeckt der finnische Schnee offensichtlich überhaupt nicht, wie auch die anschließenden Handling- und Traktionsversuche zeigen. Bei tiefen Temperaturen und festgefahrener Schneedecke sind diese zwei Kandidaten am Ende ihres Lateins.
Während sich der Pirelli bei sommerlichen Temperaturen mit guten Leistungen auf Nässe noch in die Punkte retten kann, fällt der Bridgestone auch hier deutlich ab. Beim Nassbremsen beansprucht der japanische Reifen mit 63,8 Metern ebenfalls den meisten Raum, auch Kumho, Sava, Uniroyal und ‧Vredestein liegen über 60 Meter.
Mit dem reinen Winterreifen steht der Golf auf nasser Straße nach 60 Metern, das übrige Testfeld aus Pirelli, Nokian, Goodyear und Hankook liegt auf gleichem Niveau, beziehungsweise bringt den Golf ein bis zwei Meter früher zum Stehen. Bester Ganzjahres-Nassbremser ist mit 55,8 Metern der Michelin. Unschlagbar gut bremst auf nasser Fahrbahn allerdings der Sommerspezialist: 52 Meter sind ein Wort und fast zwei ganze Autolängen gegenüber dem Spitzenreiter aus der Ganzjahresfraktion.
Sollte es Michelin dennoch gelungen sein, den schier unüberwindlichen Zielkonflikt zwischen den vier Jahreszeiten gelöst zu haben? Bis jetzt spricht wenig gegen die Ganzjahreslösung der Franzosen.
Beim Aquaplaningtest hat Nokian die Nase vorn
Doch leider leistet sich der sonst überraschend gute Pneu im Aquaplaning einen Schnitzer: Geradeaus geht es noch einigermaßen zügig durch das Wasserbecken, tritt das Aquaplaning jedoch in einer Kurve auf, rutscht der Golf mit dem CrossClimate als Erstes aus der Kurve. Obwohl dieser Fall zugegebenermaßen selten auftritt und deshalb auch nur mit 10 möglichen Punkten in die Gesamtwertung eingeht, verspielt der Newcomer damit den möglichen Gesamtsieg.
Die Aquaplaningempfindlichkeit in der Kurve liegt auch mit an der relativ geringen Profiltiefe: Im Neuzustand messen wir beim Michelin lediglich 7,0 Millimeter tiefe Rillen. Das ist sogar ein guter Millimeter weniger als beim reinen Sommerreifen von Conti. Zum Vergleich: Der Winterreifen von Dunlop hat neun Millimeter Anfangsprofil, die übrigen Allwetterreifen bieten alle über acht Millimeter Reserve.
Mit weitem Abstand am zügigsten rauscht der Nokian Weatherproof (8,4 Millimeter in der Mitte) durch das Wasserbecken: Rund 12 km/h gegenüber dem schlechtesten Teilnehmer und immer noch 7,5 km/h schneller als der Michelin. Die Finnen scheinen beim Thema Wasserverdrängung wahre Meister zu sein. Zumindest wenn der Reifen neu ist. Angesichts der Empfehlung, Winterreifen schon bei vier Millimeter Restprofiltiefe auszutauschen, stellt sich aber unwillkürlich auch die Frage nach dem optimalen Zeitpunkt für die Montage eines solchen Ganzjahresreifens.
Zwei Jahre sollten Ganzjahresreifen halten
Zwei Winter und zwei Sommer sollten bei einer durchschnittlichen Fahrleistung mit dieser Art von Reifen machbar sein. Zumal die Ganzjahresreifen in der Regel auch ein paar Euro teurer sind. Doch der zweite Winter wird dann schon, durch den dazwischenliegenden Sommer, mit deutlich vorbelastetem Profil in Angriff genommen. So ist es vielleicht klüger, den neuen Ganzjahresreifen im Herbst zu montieren. Dann ist zumindest im ersten Winter noch eine gute Leistung zu erwarten – gerade wenn es doch einmal ordentlich schneien sollte.
Im zweiten Winter sind dann jedoch bereits größere Abstriche zu machen, auch wenn die Reifen noch vollkommen auf der sicheren Seite des Gesetzes sind. In Städten oder Regionen mit wenig Niederschlag ist die nachlassende Haftung auf Schnee aber wohl zu verschmerzen.
Fazit
Die Ganzjahresreifen von Nokian und Goodyear sind zumindest im Neuzustand im Winter sehr nahe am reinen Winterreifen dran. Dazu bieten die beiden Testkandidaten auch auf sommerlicher und nasser Straße ausreichend viel Sicherheit und Haftung. Allerdings auf deutlich niedrigerem Niveau als der Referenz-Sommerreifen.
Dieser wäre im Test sogar mit null Punkten auf Schnee nicht auf dem letzten Gesamtrang gelandet. Weil er auf nasser und trockener Fahrbahn um so viel besser ist.
Der reine Winterreifen ist bei sommerlichen Bedingungen ebenfalls nicht abgründig schlecht und würde in der Endabrechnung sogar die meisten Ganzjahres-Generalisten auf die Plätze verweisen. Natürlich wäre er im Sommer auch schnell ruiniert. Ist aber vielleicht sogar der im Sommer aufgebrauchte Winterreifen mit Restprofil am Ende so etwas wie der beste und nachhaltigste Ganzjahresreifen? Das muss nun jeder für sich selbst entscheiden – gängige Praxis ist es allemal.
So haben wir getestet
Teststrecke: Test World (FIN) und Contidrom (D).
Testfahrzeug: Seat Leon ST, Golf VII.
Bremswegmessung auf Schnee: Mittlere Verzögerung aus Fensterbremsung zwischen 28 und 10 km/h, berechnet auf Meter bis zum Stillstand.
Traktionsmessung auf Schnee: Beschleunigung zwischen 15 und 32 km/h bei aktivierter Traktionskontrolle.
Schneehandling: Streckenlänge 1200 Meter, objektive Bewertung der Fahrzeit und subjektive Bewertung des Fahrverhaltens.
Bremswegmessung bei Nässe: Verzögerung aus Fensterbremsung zwischen 80 und 1 km/h, hochgerechnet auf 100 km/h bis zum Stillstand.
Bremsweg bei Trockenheit: Verzögerung aus Fensterbremsung zwischen 100 und 1 km/h, hochgerechnet auf 100 km/h bis zum Stillstand.
Aquaplaning längs: 9 Millimeter Wassertiefe, Wert bei mehr als 15 Prozent Schlupf.
Aquaplaning quer: 5 Millimeter Wassertiefe, Integral der erreichten Querbeschleunigung zwischen 60 und 90 km/h.
Kreisbahn: Durchschnittliche Rundenzeit auf einer bewässerten Kreisbahn mit einem Durchmesser von 60 Metern.
Nasshandlingkurs: Streckenlänge 1835 Meter, objektive Bewertung der Fahrzeit und subjektive Bewertung des Fahrverhaltens.
Trockenhandling: Streckenlänge 1650 Meter, objektive Bewertung der Fahrzeit und subjektive Bewertung des Fahrverhaltens.
Außengeräusch: Vorbeirollgeräusch bei 80 km/h in db(A) nach 2001/43/EC.
Rollwiderstand: Maschinenversuch bei einer Last von 4827 Newton, Luftdruck 2,1 bar.
Preisermittlung: Durchschnittliche Verkaufspreise, ermittelt vom Bundesverband Reifenhandel und Vulkaniseur-Handwerk (BRV) e.V., Stand September 2016.
Weitere Informationen
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