22.09.2021

Reifen-Entwicklung – Morgen reden Reifen mit

Reifen ohne Luft oder aus Löwenzahn. Pneus, die aus dem 3D-Drucker kommen und mit anderen Verkehrsteilnehmenden kommunizieren: klingt nach Science Fiction, aber manches soll bald in Serie gehen.

Natürlich fahren wir heute die besten Reifen, die es jemals gab, die Ergebnisse der Reifentests zeigen es: Echte Verlierer sind selten geworden. Und doch gehören die Reifen zu den Bauteilen, die sich seit der Kreidezeit des Automobils nicht grundlegend verändert haben. Ein Reifen besteht noch immer zu 40 Prozent aus Kautschuk, reagiert allergisch auf falschen Luftdruck und produziert jede Menge Abrieb, der in der Luft, im Boden und im Wasser landet.

Elektroautos beanspruchen Reifen stärker als Verbrenner

Nach einer OECD-Studie verursachen Reifen und Bremsen von 2035 an mehr Feinstaub als Verbrennermotoren. Das hängt natürlich damit zusammen, dass der Verbrenner nach und nach zum Auslaufmodell wird, aber durch das Elektroauto wird das Problem nicht kleiner, weil sie an ihren Akkupaketen schwer zu tragen haben. Und mit dem Gewicht steigt natürlich auch der Abrieb – ebenso wie mit dem hohen und früh einsetzenden Drehmoment, das ja eigentlich zu den großen Vorzügen der Stromer gehört.

Reifen und Felge künftig als bauliche Einheit

Klar ist, dass unsere Reifen nicht einfach nur besser werden müssen, um mit der Entwicklung des Autos Schritt zu halten. Für die Reifenentwickler geht es um nicht weniger als die Neuerfindung des Rads. Und das ist schon deshalb wörtlich zu nehmen, weil Reifen und Felge in Zukunft zur konstruktiven Einheit werden könnten. Zumindest sieht es nach dem heutigen Stand der Reifenentwicklung danach aus. Aber der Reihe nach, denn bei den nächsten Reifenwechseln wird sich noch nicht allzu viel verändern.

Reifen für E-Autos können die Reichweite vergrößern

An der Optimierung ihrer Elektroauto-Reifen arbeiten im Moment alle großen Hersteller. Anders als bei vielen Verbrennern spielen hohe Spitzengeschwindigkeiten bei E-Autos keine Rolle, während die Reduktion des Rollwiderstands immer wichtiger wird. Das heute schon erhältliche Ergebnis sind Hightech-Sparreifen wie der neue EcoContact 6 von Continental oder der e.Primcacy von Michelin: Im Vergleich zu konventionellen Sommerreifen sollen sie die Reichweite um drei  bis sieben Prozent vergrößern.

Kurzer Bremsweg und leises Abrollen müssen gewährleistet sein

Zu den großen Herausforderungen bei der Entwicklung gehört, dass die Wirtschaftlichkeit nicht auf Kosten des Bremswegs gehen darf. Außerdem muss der Reifen eines Elektroautos besonders leise abrollen, weil sein Geräusch nicht wie beim Verbrenner im mechanischen Klangteppich des Motors untergeht.

 

Worauf Sie beim Reifenkauf achten sollten und was die verschiedenen Symbole auf dem Reifen bedeutet, sehen Sie auf unseren Internetseiten "Reifen – Aufbau, Profile, Reifendruck"

Reifen aus Reis und PET-Flaschen – (noch) Zukunftsmusik

Zur Ökobilanz eines guten Reifens zählt nicht nur der Verbrauch, sondern auch die Nachhaltigkeit der verwendeten Materialien. Silikat lässt sich auch aus der Asche von Reishülsen gewinnen und aus recycelten PET-Flaschen kann Polyester für Karkassen werden, das wissen die Entwickler von Continental schon jetzt, doch in der Serienfertigung sind diese Zukunftsvisionen noch nicht angekommen.

Es muss nicht immer Kautschuk sein

Speziell der hohe Naturkautschuk-Anteil macht den Entwicklern zu schaffen, weil der Rohstoff aus tropischen Monokulturen stammt. Pirelli reagiert darauf mit dem ersten Reifen aus nachhaltig produzierten Kautschuk, dessen Anbau den Standards der Non-Profit-Organisation Forest Stewardship Council entspricht: Die Plantagen müssen so bewirtschaftet werden, dass die biologische Vielfalt erhalten bleibt. Allerdings gibt es den Reifen mit dem grünen Gewissen bisher nur in einer einzigen Dimension, die auf den BMW X5 in der Plug-in-Hybrid-Version passt.

Mehr Nachhaltigkeit durch neue Rohstoffe und austauschbare Laufflächen

Das japanische Chemieunternehmen Kuraray experimentiert derweil mit einem biobasierten Kautschuk-Ersatzstoff aus Zuckerrohr und verspricht sich davon nicht nur bessere Wintereigenschaften, sondern eine dauerhaft höhere Elastizität der Gummimischung. Das würde bedeuten, dass der Reifen im Alter kaum noch aushärtet, Wenigfahrer müssten also keinen gut profilierten Altreifen mehr aus Sicherheitsgründen entsorgen. Das Ende des Wegwerf-Reifens streben auch die Entwickler von Continental an, denken dabei aber eine Lauffläche, die sich ohne großen Aufwand austauschen lässt.

Reifen aus Löwenzahn, Sojaöl und Recycling-Materialien

Gleichzeitig beschäftigen sich die Continental-Entwickler seit 2018 damit, Kautschuk durch Löwenzahn zu ersetzen. Denn der kann auch in Europa angebaut werden – zum Beispiel rund um die Versuchsanlage in Anklam (Mecklenburg-Vorpommern), in die der Hersteller rund 35 Millionen Euro investiert hat. Die Rede ist von einem Serienstart in „fünf bis zehn Jahren“, das wäre vergleichsweise schnell. Goodyear will „bis 2040“ Reifen aus Soja- statt Erdöl anbieten. Und Michelin kündigt den Ökoreifen aus erneuerbaren, recycelten und biologisch erzeugten Materialien „bis zum Jahr 2050“ an. Was bedeutet, dass zuvor eine andere Innovation die Welt des schwarzen Gummis verändern wird, denn der vernetzte Reifen hat den Sprung in die Sortimente einiger Hersteller schon geschafft.

Ein Blick in die nähere Zukunft: Sensorik und Vernetzung

Der Reifen von morgen sammelt Daten, kommuniziert mit dem Fahrer, kooperiert mit den Sicherheitssystemen seines Autos und tauscht sich womöglich auch mit anderen Verkehrsteilnehmern aus. Die Sensorik erkennt, ob die Straße nass oder glatt ist, warnt vor drohenden Reifenpannen und bemerkt, wenn sich das Profil der Abfahrgrenze nähert. Der kleine nadelförmige Chip im Reifen schützt vor Diebstahl, weil er nicht zerstörungsfrei entfernt werden kann. Und er erleichtert auch noch den letzten Weg allen Gummis, weil er beim Recyceln hilft, alte Reifen mit ähnlichen Materialmischungen zu sortieren. Bis 2023 will beispielsweise Michelin sein gesamtes Pkw-Reifen-Programm mit Vernetzungstechnik ausstatten.

Den kommunizierenden Reifen gibt es schon

In der Welt des gewerblichen Schwerverkehrs gehören die mitdenkenden Reifen schon zum Alltag, Continental, Goodyear und Michelin bieten sie ihren Flottenkunden an. Und der Sportwagen-Hersteller McLaren verwendet das Cyber Tyre System von Pirelli erstmals in einem Serien-Pkw, dem Hybrid-Sportwagen Artura. Dessen Fahrer teilt die Sensorik unter anderem mit, wann seine Reifen die optimale Betriebstemperatur erreicht haben und welcher Reifendruck auf der Rennstrecke zu seinem individuellen Fahrstil passt.

Sowas braucht natürlich kein Normalfahrer in seinem Škoda Fabia. Aber es zeigt, welche Möglichkeiten im vernetzten Reifen stecken: Denn im nächsten Entwicklungsschritt soll das Pirelli-System via 5G-Netz mit anderen Autos über den Straßenzustand kommunizieren.

Der Reifen von morgen läuft luftlos

Alles soll für den Autofahrer in Zukunft einfacher und vor allem sicherer werden. Einig sind sich die Entwickler darüber, dass er sich über den korrekten Reifendruck keine Gedanken mehr machen muss. Bei Continental denken sie aktuell noch über integrierte Zentrifugalpumpen nach, die beim Beschleunigen den Luftdruck anpassen, während die Entwickler bei Bridgestone und Michelin an Reifen arbeiten, die ganz ohne Luft laufen.

Die Rückkehr des Speichenrads, aber mit Hightech-Materialien

Auf den ersten Blick erinnern die Konzepte an die Flegeljahre des Automobils, als Vollgummireifen und Holzspeichenräder der Stand der Technik waren. Doch natürlich besteht die Trägerstruktur der heutigen High-Tech-Räder aus Werkstoffen wie Polyesterharz oder Kohlefaser. Rad und Reifen sind fest miteinander verbunden, weshalb Michelin das System auch Tweel nennt: eine Verschmelzung der englischen Begriffe Tire und Wheel. Und das Reifenprofil dazu kommt aus dem 3D-Drucker, zumindest arbeiten die Entwickler bei Michelin daran.

Ein Reifen ohne Achse und mit einem Profil für alle Fälle

Sogar ein Profil, das sich selbst erneuert, halten die französischen Visionäre für denkbar. Das klingt für heutige Begriffe noch utopisch, aber nur so lange, bis der kugelrunde Konzeptreifen ins Blickfeld kommt, den Goodyear kürzlich entwickelt hat. Der soll sogar die Achsen einsparen, weil ihn ein starkes Magnetfeld unterm Auto festhält. Und eine bionische Haut aus elastischen Polymeren soll über elektrische Impulse dafür sorgen, dass sich sein Profil an die Witterung und den Straßenbelag anpasst. Die Reifentests der Zukunft versprechen spannend zu werden.