01.04.2016

Der Gurt − Unscheinbarer Lebensretter

Der Gurt – ein unscheinbarer Lebensretter. Doch wird er auch von jedermann genutzt? Dieser Frage gehen die ACE-Ehrenamtlichen mit ihrer Verkehrssicherheitsaktion nach. Erste Ergebnisse kommen aus Berlin.

Ein Dienstagmorgen im Südwesten von Berlin. Die Autos schieben sich im Berufsverkehr die Bundesstraße 1 entlang. Alles unter den aufmerksamen Blicken von vier Ehrenamtlichen des ACE-Kreisclubs Berlin. Peter Baake, Hans-Joachim Hacker, Uwe Granzin und Jan-C. Almoslino sind schon früh auf den Beinen. Heute wollen sie an dieser viel befahrenen Kreuzung und an einem Kindergarten in der Nähe schauen, wie es um die Nutzung des Gurtes bestellt ist. Für die Auftaktveranstaltung von "Komm gu(r)t an" ist auch der Vorsitzende des ACE, Stefan Heimlich, angereist. Zum Start der deutschlandweiten Aktion nennt er besorgniserregende Zahlen: "Nach ACE-Recherchen war 2014 bundesweit durchschnittlich jeder fünfte Verkehrstote zum Zeitpunkt des Unfalls nicht angeschnallt."

ACE-Aktion „Komm gu(r)t an“ startet in Berlin

 

Für die Bestandsaufnahme in diesem Jahr wird in den nächsten Wochen durch die jeweiligen ACE-Kreisclubs fleißig beobachtet und gezählt. In Berlin teilen sich die Ehrenamtlichen unterdessen, für einen besseren Überblick, an der Kreuzung auf. Jeder beobachtet eine der großen Einfallstraßen. Frank Fleischhauer, der zuständige Regionalbeauftragte, packt ebenfalls mit an. Er bezieht an einer Brücke seine Position und beobachtet die Vorbeifahrenden auf der Bundesstraße. Über das mögliche Ergebnis hatten sie sich zuvor so ihre Gedanken gemacht. "Die Anschnallquote ist in Deutschland ja zum Glück schon ziemlich hoch", hatte der Kreisvorsitzende Peter Baake betont. Die drei anderen waren sich auch relativ sicher gewesen, eher wenige Gurtmuffel zählen zu müssen. "Die Autofahrer fahren hier häufig unaufmerksam, deshalb ist auch immer ein gewisses Unfallrisiko vorhanden. Da wird sich dann schon mal eher angeschnallt, um sich zu schützen", hatte Uwe Granzin vermutet.

Ein Schwede hat‘s erfunden

 

Trotz seiner lebensrettenden Funktion blickt der Sicherheitsgurt auf einen schwierigen Start zurück. Erfunden wurde er in den 50er-Jahren vom Luftfahrtingenieur Nils Ivar Bohlin. Er war Schwede und so ist es nicht verwunderlich, dass Volvo 1959 seine Autos als erster Hersteller mit dem Drei-Punkt-Sicherheitsgurt ausstattete.

1976 kam die Gurtpflicht

 

Ab Anfang 1974 wurde der Einbau an den Vordersitzen dann für alle Hersteller verpflichtend. Diese Vorschrift war jedoch noch nicht mit einer Anschnallpflicht für die Passagiere verbunden. Sie kam erst zwei Jahre später – mit vielen Vorbehalten. Medien von damals lassen heute noch erahnen, was die Menschen bewegte. Gurtnutzer wurden als ängstliches Spießbürgertum abgetan und unter Frauen herrschte Furcht vor negativen Auswirkungen des Gurtes auf die Brüste. Eine psychologische Studie, vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegeben, zeigte außerdem, dass der Gurt vorranging mit dem Thema Unfall in Verbindung gebracht wurde. Schlimme Vorstellungen, wegen der sogenannten Gurtfessel zu ertrinken oder zu verbrennen, geisterten durch die Köpfe und verhinderten den Griff zum Gurt. Findige Geschäftsleute machten daraufhin mit den Sorgen der Menschen einfach Geld. Sie boten einen Gurt-Kapper an, mit dem man sich in brenzligen Situationen aus den Fängen der gefährlichen Gurtfessel befreien könne. Mehrere tausend dieser Kapper wurden erfolgreich verkauft.

Viel Überzeugungsarbeit und ein Bußgeld waren nötig

 

Das alles stoppte die Karriere des Gurtes aber nicht. Umfangreiche und teure Werbekampagnen und sogar eine eigene Fernsehsendung halfen ihm, ein besseres Ansehen zu erlangen. Auch im ACE LENKRAD warb der damalige Bundesverkehrsminister Kurt Gscheidle mit ganzseitigen Anzeigen für "Erst gurten – dann starten" und gab zu bedenken, dass mit dem Gurt auch die Zukunft der Familie gesichert werde. Der ACE selbst schickte einen zweisitzigen Gurtschlitten auf Tournee. In über 50 Städten konnten Interessierte am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man angeschnallt mit elf km/h gegen ein Hindernis fährt.


Im Jahr 1979 kam dann die Gurteinbaupflicht auf den Rücksitzen hinzu. Auf diesen Plätzen ist die Anschnallmoral übrigens bis heute am geringsten. Eine europaweite Umfrage im Auftrag von Ford ergab im Jahr 2015, dass rund ein Drittel aller Europäer, vor allem über 40-jährige, auf dem Rücksitz nie oder nicht regelmäßig angeschnallt sind.


Im Verlauf der Gurtgeschichte konnte der harte Kern der Gurtmuffel erst 1984 mit der Einführung des Bußgeldes umgestimmt werden. So wurden bei Nichtanlegen des Gurtes 40 D-Mark fällig. Was viele nicht wissen: Der Gurt gilt auch als nicht angelegt, wenn der Schultergurt unter dem linken Arm geführt wird anstatt über der Schulter. Es geht also vor allem auch um die korrekte Benutzung.

Mit dem Gurt sinkt die Zahl der Verkehrstoten

 

Seine Bewährungsprobe im Pkw hat der Gurt in jedem Fall bestanden. Das Zusammenspiel mit weiteren Sicherheitseinrichtungen, wie beispielsweise dem Airbag, beeinflusste den positiven Trend zusätzlich. Während es 1971 noch 21.332 Verkehrstote gab, waren es in 2015 nach vorläufigen Berechnungen des statistischen Bundesamtes nur 3475 Menschen. Und das trotz einer deutlich höheren Anzahl von Fahrzeugen im Straßenverkehr.


1998 erweiterte der Gurt sein Wirkungsfeld erneut. Auch in Reisebussen muss sich seitdem jeder während der Fahrt anschnallen. Dass das sinnvoll ist, zeigten erst im März wieder zwei Busunfälle, bei denen auf Deutschlands Straßen mehrere Menschen verletzt wurden. Im Pkw bekam der Gurt währenddessen einen akustischen Helfer. Seit 2012 müssen neue Autos mit einem Sicherheits-Warnsignal für den Fahrersitz ausgestattet sein. Jan-C. Almoslino aus Berlin kennt dieses Warnsignal gut: "Bei mir ist das so: Wenn ich mich in meinem Kleinwagen nicht  anschnalle und losfahre, dann piept er so lange, bis ich den Gurt anlege." Peter Baake nickt zustimmend. Auch er hat schon Erfahrungen mit dem manchmal nervigen, aber durchaus wirkungsvollen Piepton.

Fazit der ersten Zählaktion in Berlin

 

Die Ehrenamtlichen aus Berlin haben sich inzwischen wieder versammelt und tauschen sich über ihre Beobachtungen aus. "Ich würde sagen, 90 Prozent der Menschen waren angeschnallt", schätzt Hans-Joachim Hacker. Tatsächlich fallen die Ergebnisse etwas niedriger aus, doch generell bestätigen sie diesen Eindruck. 705 von 843 Autofahrern waren angeschnallt. Das entspricht rund 84 Prozent. Von 96 gezählten Beifahrern waren neun nicht angeschnallt.


"Was sich bemerkbar macht: Vor allem die Fahrer von kleinen Transportern sind so gut wie nicht angeschnallt", gibt Frank Fleischhauer zu bedenken. Die Ehrenamtlichen bestätigen seinen Eindruck. Auch ihnen ist diese Tendenz während der Zählung aufgefallen. Einige sind an der Ampel sogar mit den Menschen ins Gespräch gekommen. "Die Reaktionen waren alle durchweg positiv. Einer, der nicht angeschnallt war, hat dann sogar sofort den Gurt angelegt", freut sich Jan-C. Almoslino auf dem Weg zum nahe gelegenen Kindergarten. Dort wollen die vier Ehrenamtlichen nun schauen, wie die Kinder gesichert sind, wenn sie morgens von ihren Eltern gebracht werden. Gerade angekommen, können sie schon eine erste gefährliche Situation beobachten. Eine Frau fährt mit ihrem Kleinwagen vor und parkt mitten auf dem Bürgersteig direkt vor der Einfahrt. "Ihre Kinder waren nicht gesichert", sagt Hans-Joachim Hacker, nachdem die Mutter hastig mit ihren beiden Kleinen in Richtung Eingang verschwunden ist. Auf den netten Hinweis der Ehrenamtlichen reagiert die Frau gestresst: "Ja, ja, ich weiß, dass Sie heute da sind, aber ich hab leider gar keine Zeit. Tut mir leid."

Kinder häufig nicht angeschnallt

 

Der ACE-Vorsitzende Stefan Heimlich weiß: "Gerade auf dem Weg zur Kita oder Schule sind Kinder oft falsch oder gar nicht gesichert, denn viele Eltern gehen davon aus, dass bei niedrigen Geschwindigkeiten nichts passieren kann. Eine fatale Fehleinschätzung, denn ungesicherte Kinder haben ein siebenfach höheres Risiko, bei Unfällen schwere oder gar tödliche Verletzungen zu erleiden."


Beratungsresistent sind zum Glück nicht alle Eltern und so haben die vier ACE-Zähler die Möglichkeit, mit einigen ins Gespräch zu kommen. Trotzdem hinterlässt der Aktions-Tag gemischte Gefühle bei den Ehrenamtlichen. "Mehr Personen als erwartet sind nicht angeschnallt gewesen", resümiert Peter Baake. Vor allem eins stimmt ihn nachdenklich: "Traurig ist, dass manche Kinder, trotz unserer Vorankündigung, nicht gesichert waren." Der unscheinbare Lebensretter scheint also noch etwas mehr Aufmerksamkeit zu vertragen, damit Groß und Klein immer gu(r)t ankommen.

Kindersicherung

Bereits die bundesweite Club-Aktion 2007 zeigte, wie wichtig Verkehrssicherheitsarbeit zum Thema Gurt ist. Bei der damaligen Zählaktion war mehr als jedes fünfte Kind im Auto nicht oder nicht vorschriftsmäßig angeschnallt. Die offiziellen Zahlen verunfallter Kinder sind zwar insgesamt seit Jahren rückläufig, dennoch: im Jahr 2014 verunglückten laut statistischem Bundesamt 10.765 Kinder bei Straßenverkehrsunfällen als Mitfahrer in einem Pkw. 26 von ihnen starben.


"Viele Kinder werden falsch gesichert", weiß ACE-Kindersicherheitsexpertin Renate Hanstein. Für Kinder unter zwölf Jahren, die kleiner sind als 1,50 Meter, sind seit dem Jahr 1993 amtlich genehmigte Rückhaltesysteme im Fahrzeug Pflicht. Wer sein Kind weder mit Kindersitz noch mit Gurt sichert und erwischt wird, muss 60 Euro Strafe zahlen und bekommt einen Punkt in Flensburg. Mit Rückhalteeinrichtung, aber nicht vorschriftsmäßiger Sicherung fallen 30 Euro Strafe an. "Häufig werden Fehler gemacht, wie zum Beispiel die Babyschale auf dem Beifahrersitz zu platzieren, obwohl der Airbag noch aktiviert ist, oder das Kind ist zwar angeschnallt, der Kindersitz jedoch lose im Fahrzeug abgestellt", erklärt ACE-Expertin Hanstein und gibt hilfreiche Tipps für eine sichere Fahrt: "Grundsätzlich sollten die Bedienungsanleitungen vom Auto und vom Kindersitz beachtet werden. Der Kindersitz sollte immer an die jeweilige Gewichtsgruppe des Kindes angepasst werden und Babyschalen sind ausschließlich entgegen der Fahrtrichtung anzubringen. Bei allen Kindern sollte außerdem auf dicke Kleidung verzichtet werden, denn damit wird der korrekte Gurtverlauf erschwert. An kalten Tagen das Kind also lieber ohne die Winterjacke in den Kindersitz setzen und dafür mit einer Wolldecke zudecken", rät Renate Hanstein.

Weiterführende Informationen
Bußgelder rund um das Thema Gurtpflicht (pdf) 
Statistik Verkehrstote ohne Gurt (pdf)


Gurt-Geschichte

  • 1976: Anschnallpflicht auf den Pkw-Vordersitzen. Mitnahmeverbot von Kindern unter zwölf Jahren auf den Vordersitzen.
  • 1979: Gurteinbaupflicht für neue Pkw auf den Rücksitzen.
  • 1984: Einführung eines Verwarnungsgeldes in Höhe von 40 D-Mark bei Nichtanlegen.
  • 1993: Gurtpflicht von Kindern bis zwölf Jahre/unter 1,50 Meter in geeigneten Rückhaltesystemen.
  • 1998: Anschnallpflicht in Reisebussen.
  • 2012: Alle neuen Pkw müssen mit einem Sicherheitsgurt-Warnsignal für den Fahrersitz ausgestattet sein.


Interview mit Prof. Kurt Bodewig, Schirmherr der ACE-Aktion "Komm gu(r)t an" und Präsident der Deutschen Verkehrswacht und Bundesminister a.D