„Wenn der Hans zur Schule ging, stets sein Blick am Himmel hing. Nach den Dächern, Wolken, Schwalben schaut er aufwärts allenthalben: Vor die eignen Füße dicht, ja, da sah der Bursche nicht, also dass ein jeder ruft:„Seht den Hans Guck-in-die-Luft!“
Generationen von Kindern kennen die Geschichte vom Hans Guck-in-die-Luft, der verträumt überall hinschaut, nur nicht auf den Weg vor sich und schlussendlich zum großen Spaß der Zuhörenden und Vorlesenden im Wasser landet und gar nicht mehr so vergnügt ist. Würde Struwwelpeter-Autor Heinrich Hoffmann seine Geschichte heute schreiben, würde aus Hans Guck-in-die-Luft wohl eher ein Hans Guck-in-das-Phone. Denn wer heute als Fußgänger nicht auf seine Umgebung achtet, der schaut selten träumend in den Himmel als vielmehr auf das kleine Smartphone-Display und ist entweder damit beschäftigt, virtuelle Monster, sogenannte Pokémons, zu jagen oder bei Facebook und Whatsapp Textnachrichten zu schreiben.
Smombie war Jugendwort des Jahres 2015
Das Phänomen ist inzwischen schon so weit verbreitet, dass es ein eigenes Wort für die mit dem Smartphone beschäftigten Fußgänger gibt: Der „Smombie“ ist ein Kofferwort aus Smartphone und Zombie und charakterisiert den Fußgänger, der quasi wie ein Zombie, blind und taub für seine Umgebung, geradeaus durch die Stadt läuft – und dabei auch schon mal mit anderen Fußgängern oder im schlimmsten Fall mit einem Auto oder einer Straßenbahn zusammenstößt. Smombie war das Jugendwort des Jahres 2015.
Und der Smombie ist in Europa weit verbreitet. Die Dekra hat im vergangenen Jahr Zählungen in mehreren europäischen Städten durchgeführt (siehe auch Grafik Seite 52). Von knapp 14 000 Fußgängern waren rund 17 Prozent mit ihrem Smartphone beschäftigt, anstatt auf den Verkehr zu achten. Die aufmerksamsten Fußgänger registrierte die Dekra in Rom und Amsterdam – Städte, in denen entweder der Verkehr ziemlich chaotisch (Rom) ist oder in denen es wie in Amsterdam sehr viele Fahrradfahrer gibt – Fußgänger werden somit zur Aufmerksamkeit geradezu gezwungen.
2016 war unfallreichstes Jahr seit Wiedervereinigung
Das heißt aber nicht, dass in anderen Städten gefahrlos während des Gehens gedaddelt werden kann. Nach den vorläufigen Ergebnissen, die das Statistische Bundesamt kürzlich mitgeteilt hat, war 2016 das unfallreichste Jahr seit der deutschen Wiedervereinigung. Im Schnitt wird etwa alle 16 Stunden ein Fußgänger im Straßenverkehr getötet, alle 68 Minuten wird einer schwer und alle 23 Minuten ein Fußgänger leicht verletzt. Und immer häufiger sind Fußgänger nicht nur an Unfällen beteiligt, sondern sogar hauptverantwortlich. So wie vermutlich im November 2016, als eine Frau in Leipzig von einer S-Bahn überrollt wurde. Laut Polizei hatten sich die Hinweise verdichtet, dass die Frau während der Einfahrt der S-Bahn auf ihr Smartphone geschaut hatte und wohl auch Kopfhörer trug. Deshalb hatte sie den einfahrenden Zug nicht bemerkt, war auf die Gleise gestürzt und überrollt worden.
Für den ACE waren die vorliegenden Zahlen und Fälle, wie jener aus Leipzig, Grund genug, die diesjährige Schwerpunktaktion für mehr Verkehrssicherheit den Fußgängern zu widmen. Unter dem Motto „Finger weg“ wenden sich die Ehrenamtlichen aus den ACE-Kreisen in den nächsten Wochen und Monaten direkt an die Fußgänger und klären über das Ablenkungspotenzial der Smartphones auf. Herzstück der Kampagne ist, wie jedes Jahr, eine große Zählaktion. Wie viele Menschen sind in unseren Dörfern und Städten unterwegs mehr damit beschäftigt, aufs Smartphone zu achten als auf die Umgebung um sich herum?
Erste Zählaktion in Celle
Eine der ersten „Finger weg“- Zählaktionen fand in Celle statt. Der Vorstand des ACE-Kreises Südheide bekommt hier seit vielen Jahren schon tatkräftige Unterstützung durch die SPD-Abgeordnete Kirsten Lühmann, der die Verkehrssicherheit ganz besonders am Herzen liegt. So war es für ACE-Mitglied Lühmann ganz selbstverständlich, dass sie bei der Zählaktion in Celle auch dabei ist. Denn auch sie hat schon ihre Erfahrungen mit den Smombies im Straßenverkehr gemacht. „Wir sehen, dass immer mehr Menschen der Meinung sind, dass sie immer erreichbar sein müssen, und dann auch bei jeder Gelegenheit ans Handy gehen – ob es jetzt gerade passend ist oder nicht“, so Lühmann. Sie denkt, dass sich viele Menschen überschätzen. „Sie glauben, dass sie aufmerksam sind und alles im Griff haben, wenn sie nur zwischendurch mal hochschauen.“ Doch Tatsache ist, dass den Smombies wohl nicht bewusst ist, wie lange die Strecke, die sie quasi im Blindflug absolvieren, tatsächlich ist.
Und so sind auch die Ergebnisse der Celler Zählaktion nicht wirklich überraschend. Von den Männern und Frauen nutzte ungefähr jeder Vierte sein Smartphone im Gehen, von den Jungen und Mädchen war es sogar etwa jeder Dritte. Vor allem die Jüngeren hatten nicht nur das Smartphone in der Hand, sondern zusätzlich oft Kopfhörer auf. Gerade dann ist die Gefahr groß, dass die Smombies komplett in der eigenen Welt versinken und ihre Umgebung – etwa auch das Klingeln einer Straßenbahn – gar nicht mehr wahrnehmen.
Für ungläubiges Kopfschütteln unter den ACE-Ehrenamtlichen sorgte etwa eine junge Mutter. Während sie den Kinderwagen schob, hatte sie in der einen Hand eine Zigarette, in der anderen das Smartphone, auf welches sie sich konzentrierte. Ungefähr alle fünf bis zehn Meter schaute sie kurz hoch. Dass sie fast eine Passantin an der Bushaltestelle umfuhr, schien sie nicht zu registrieren.
Auch Erwachsene schauen beim Gehen auf das Smartphone
Dass auch so viele Erwachsene während des Gehens den Blick starr auf das Smartphone richteten, überraschte auch Kirsten Lühmann. „Ich dachte eigentlich immer, dass das ein Thema für junge Menschen ist. Unsere Zählung zeigt aber, dass doch auch viele Erwachsene sich so leichtsinnig verhalten. Das zeigt auch, wie wichtig und richtig die Aktion vom ACE ist“, so die SPD-Bundestagsabgeordnete.
Auch die Ehrenamtlichen vom ACE-Kreisvorstand zeigten sich über manche Ergebnisse doch verwundert, so wie Schriftführer Paul Stern: „Mir kommt es fast so vor, als seien noch mehr Jungen als Mädchen mit dem Handy in der Hand unterwegs.“ Ein Eindruck, der seinem Standort bei der Zählung geschuldet war – in der Gesamtsumme gab es dann kaum einen Unterschied. Mit Grausen erinnert er sich noch an den Pokémon-Hype des vergangenen Sommers: „Da sind so viele, ohne zu schauen, über die Straße gerannt, dass man als Autofahrer wirklich froh sein konnte, wenn man niemanden überfahren hat.“
Das Pokémon-Fieber ist inzwischen etwas gesunken, aber es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis ein ähnliches Handyspiel die Menschen wieder in seinen Bann zieht. Deshalb, frei nach Heinrich Hoffmann: „Wenn der Hans zur Schule ging, stets sein Blick am Smartphone hing. Nach Whatsapp, Facebook, Pokémons schaut er abwärts allenthalben: Vor die eignen Füße dicht, ja, da sah der Bursche nicht, also dass ein jeder ruft:„Seht den Hans Guck-in-das-Phone!“
Weitere Informationen zu unseren Aktionen finden Sie unter „Ihr Club“.