Es erscheint fast wie ein natürlicher Reflex: Kaum denkt eine Gemeinde oder eine Stadt über ein autofreies Zentrum nach, schon beklagen ortsansässige Geschäftsinhaber mögliche Umsatzeinbußen. Die Vermutung erscheint logisch: Wenn Kunden nicht mehr die Möglichkeit haben, direkt vor dem Geschäft zu parken, bleiben sie fern. Oder shoppen lieber online. Aber stimmt diese Vermutung auch wirklich? Studien und auch Erfahrungen aus anderen Ländern zeichnen zumindest ein wesentlich facettenreicheres Bild.
Ljubljana – ausgezeichnet autofrei
In wohl kaum einer anderen europäischen Hauptstadt wurde die Vision einer autofreien Altstadt so konsequent verwirklich wie in Ljubljana. In der slowenischen Hauptstadt ist die Innenstadt seit 2008 komplett für den Autoverkehr gesperrt. Damit kommt Ljubljana auf den höchsten Anteil an reinen Fußgängerstraßen in ganz Europa. So ist eine weitläufige Flaniermeile entstanden, die voller Leben pulsiert. Dazu wurden Tausende von Bäumen gepflanzt sowie ein Fahrradverleih und eine unterirdische Abfallentsorgung eingerichtet. Kein Wunder, dass Ljubljana dafür mehrere Auszeichnungen in der Kategorie „nachhaltigste Stadt“ erhalten hat.
"Ottensen macht Platz" für Fußgänger und Radfahrer
Schon klar, nicht jede Stadt oder Gemeinde kann eine so pittoreske Kulisse wie die von Jugendstilbauten gesäumte Altstadt Ljubljanas vorweisen. Dazu gehört zum Beispiel auch der Hamburger Stadtteil Ottensen. Von September 2019 bis Februar 2020 blieben in Hamburg beim Modellversuch „Ottensen macht Platz“ fünf Straßenabschnitte für den Autoverkehr komplett gesperrt. Zwei Drittel der Einzelhändler beklagten daraufhin, dass sich ihre Erreichbarkeit verschlechtert hätte – allerdings hatte nur ein Drittel tatsächliche Umsatzeinbußen. Trotzdem befürworten mit 76 Prozent über zwei Drittel die autofreie Zone, wobei sich 56 Prozent dazu Nachbesserungen wie zum Beispiel weniger Restriktionen für den Lieferverkehr und einen Umbau der Straße wünschen würden. Insgesamt wollten sogar 83 Prozent der Anwohner die autofreie Zone behalten – allerdings wünschten sich auch 57 Prozent der Anwohner Nachbesserungen.
Radfahrer, Fußgänger und ÖPNV-Nutzer besuchen Geschäfte häufiger
Zwei von vielen subjektiven Eindrücken, die durch größer angelegte Untersuchungen untermauert werden: Die Agentur für clevere Städte hat die Ergebnisse deutsch- und englischsprachiger Studien zu diesem Thema zusammengetragen. Unter anderem kam dabei heraus, dass 80 Prozent des Umsatzes von Kunden kommen, die mit dem Rad, zu Fuß oder mit dem ÖPNV ins Geschäft gelangten. Das erscheint zunächst paradox, denn Autofahrer geben erfahrungsgemäß mehr aus. Aber Radfahrer, Fußgänger und ÖPNV-Nutzer kommen drei Mal so oft vorbei – und machen so insgesamt vier Fünftel des Umsatzes aus.
Ein Einkaufsbummel ist mehr als nur Shopping
Weitere Zahlen gefällig? Das Institut für Handelsforschung hat in einer zeitlich wie geographisch breit angelegten Befragung festgestellt, dass die meisten Shopper in der Innenstadt nicht nur einkaufen, sondern auch ihre Freizeit genießen wollen. In der gleichen Umfrage wurde der fehlende Erlebnischarakter in vielen Stadtzentren am schlechtesten benotet. Und in einer Umfrage von Juni 2019 ist ein Drittel der Bundesbürger für autofreie Innenstädte und ein anderes Drittel dagegen – das dritte Drittel ist unschlüssig.
Ein guter ÖPNV, Radwege und Fußgängerzonen machen die Stadt lebenswerter und sicherer
Weitaus deutlicher ist dagegen die Zustimmung, wenn es um die richtigen Maßnahmen zur Förderung autofreier Zonen geht: Hier standen der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs sowie von Fahrradwegen und Fußgängerzonen an erster Stelle. Genau mit einer solchen Maßnahme konnte zum Beispiel der Umsatz zwischen der 8. und 9. Avenue in New York gesteigert und der Leerstand reduziert werden: Allein durch die Absicherung einer Fahrradspur machten die dort ansässigen Händler fast die Hälfte (49 %) mehr Umsatz – die Steigerung in ganz Manhattan betrug nur 3 %. Der Leerstand sank um 47 % – und als „schöner Nebeneffekt“ nahm auch die Zahl der Unfälle mit Verletzten um 37 % ab.
Der ACE fordert den Ausbau von ÖPNV und ergänzenden Mobilitätsdienstleistungen
Auch der ACE spricht sich seit vielen Jahren für einen gezielten Ausbau des ÖPNV und der Infrastruktur für einen sicheren Fahrradverkehr aus. Dabei geht es auch um eine spürbare Verbesserung des Nutzererlebnisses, zum Beispiel über das Feedback in Apps zur gezielten Bestimmung von Kundenwünschen. Ganz vorne dürfte dabei der Komfort des ÖPNV stehen, der sich vor allem über Erreichbarkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit definiert. Aber auch das Sicherheitsgefühl nach Einbruch der Dunkelheit und die Vernetzung mit anderen Mobilitätsangeboten sind entscheidend. Alles in allem kann der Umstieg nur gelingen, wenn viele Einzelne in der Summe einen Mehrwert erfahren – und das Auto lieber Zuhause stehen lassen. Das gilt natürlich auch insbesondere für den ÖPNV auf dem Land: Auch hier braucht es mehr alternative Verkehrsangebote und intelligente Mobilitätsleistungen.
Die Corona-Krise kann auch eine Chance sein
Und was ist mit Corona? Die ausgestorbenen Innenstädte im März und April mahnen zum Wandel, wie Alain Thierstein unlängst in einem Interview sagte. Der Professor für Raumentwicklung an der Fakultät für Architektur der TU München plädiert für eine gleichberechtigte Behandlung der verschiedenen Verkehrsteilnehmer und will dazu die Dominanz des Autoverkehrs reduzieren. Auch Professor Thomas Krüger unterstreicht als Leiter des Arbeitsgebiets Projektentwicklung und Projektmanagement in der Stadtplanung an der Hafencity Universität Hamburg, dass der Einzelhandel wie auch Büroflächen durch die Corona-Krise noch schneller an Bedeutung verlieren werden. Die sinkende Attraktivität kann auch zu sinkenden Mieten führen Das sieht Krüger jedoch als Chance, diese Flächen aufs Neue z. B. mit Gastro-Fusions-Konzepten oder kulturellen Angeboten neu zu beleben – und damit auch über den Ladenschluss um 20 Uhr hinaus attraktiver zu gestalten.
Die Pandemie als Katalysator für den Radwege-Ausbau
Zudem sind durch den Lockdown z. B. in Berlin in kürzester Zeit 20 km neue Fahrradwege oder auch temporäre Spielstraßen zum Austoben für Kinder entstanden – den Kampf um die Rechtmäßigkeit dieser kurzfristig anberaumten Maßnahmen tragen dort nun zwar zum Teil die Gerichte aus, aber der Trend ist auch in den anderen Städten unübersehbar: Auch Wien, New York, Vancouver, Mexico City und Budapest haben autofreie Nebenstraßen für mehr Fußgänger und Fahrradverkehr eingerichtet. Besonders deutlich treibt Paris den Wandel voran: Aus fast der Hälfte der rund 133.000 Parkplätze werden Radwege, insgesamt kommen 680 km Radweg hinzu. 15 Minuten ist das Zeitfenster, in dem Pariser künftig zu Fuß oder per Rad wichtige Orte wie z. B. Arbeit, Kindergarten, Schule oder Einkaufsmöglichkeit erreichen sollen. Kostenpunkt: 300 Millionen Euro.
Die Innenstädte müssen attraktiver und komfortabel erreichbar sein – auch ohne Auto
Einzig auf dem Land und beim Verreisen ist das Auto der Gewinner – wohlgemerkt nur so lange, bis der ÖPNV aus der Krise die richtigen Schlüsse zieht und sich weiter modernisiert und vernetzt. Als Dienstleister für verkehrsübergreifende Mobilität steht für den ACE immer der Mensch und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt. In Zeiten des Klimawandels kann die absolute Vorfahrt für PKWs nicht mehr die alleinige Lösung sein. Gerade in Innenstädten braucht es mehr Platz für Erlebnisräume und Freizeitangebote, die Menschen auch außerhalb der Ladenöffnungszeiten Freude bereiten. Davon profitiert letztendlich auch der Handel, der aufgrund der momentanen Pandemie ohnehin noch schneller und intensiver neue Konzepte und Ideen entwickeln muss, um für seine Kunden attraktiv zu bleiben. Letztendlich entscheidet immer der Verbraucher, wohin die Reise geht – sowohl der Handel wie auch die Kommunen müssen zur (Neu)-Belebung ihrer Innenstädte einfach nur die jeweiligen Voraussetzungen dafür schaffen.